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Im Auge des Betrachters

Beauty von Stefan Sagmeister & Jessica Walsh – ein Auszug aus dem Kapitel Das Auge des Betrachters

Das Schlimmste was der Schönheit je passierte ist die Ansicht, dass sie im Auge des Betrachters liegt. Wenn jeder verschiedene Kriterien und subjektive Erfahrungen nennt, um Schönheit zu beschreiben und zu erkennen, ist es sinnlos, sie als Ziel in der Gestaltung, der Architektur oder der Kunst definieren zu wollen. Jede Diskussion darüber kommt zum Stillstand.

Der Satz Die Schönheit liegt im Auge des Betrachters wurde nicht etwa von einem Philosophen der Antike geprägt. Er ist auch nicht das Ergebnis einer breit angelegten Umfrage zur Ästhetik. Stattdessen kam er durch eine romantische Komödie in unsere Welt, und zwar durch den Roman Molly Bawn, geschrieben von Margaret Wolfe Hungerford im 19. Jahrhundert.

Romane sind Fiktion. Und diese Aussage ist schlicht nicht wahr, egal wo und wie oft sie zitiert wird. Um Fiktion mit Fakten zu widerlegen, haben wir Umfragen studiert und eigene durchgeführt. Dabei stießen wir auf eine Vielzahl von Forschungsergebnissen, die wiederholt bewiesen haben, dass alle Augen imstande sind Schönheit zu sehen, wenn sie wirklich da ist.

Warum werden eigentlich immer noch braune Anzüge verkauft?

Wir starteten unter unseren Instagram-Followern eine Umfrage zum Thema Farbe und erhielten 6.500 Antworten! … Blau kam zuerst, gefolgt von Grün für Männer und Lila für Frauen. … Auch wenn Männer Blau mit einem größeren Abstand bevorzugten, war die Farbe für Frauen gleichermaßen die erste Wahl. Ebenso fielen die Ergebnisse einer weltweiten Umfrage von YouGov aus: Blau war an erster, Braun an letzter Stelle.

Wir stellten unserer Instagram-Gruppe eine weitere Frage: Welche dieser Blau-Nuancen Ägyptisch Blau, Hellblau, Neonblau, Babyblau, Nachtblau oder Flieder) ist Ihrer Meinung nach die schönste? Hellblau landet auf Platz Eins. Können wir daraus schließen, Hellblau sei die universelle Lieblingsfarbe, sprich die schönste Farbe der Welt? Am anderen Ende des Spektrums: Braun, als unbeliebteste Farbe. Aber würde es uns gelingen, den absolut unbeliebtesten (und hässlichsten)” Braunton ausfindig zu machen? … Unsere Instagram-Follower, zugegeben eine sehr designaffine Gruppe, verwiesen das klassische Braun auf den letzten Platz. Daraus können wir schließen, dass diese Farbe die vermutlich hässlichste der Welt ist.

Auch zum Thema Formen initiierten wir eine Erhebung. Fast jeder Zweite wählte den Kreis als schönste Form, jeder Dritte entschied sich für die organische Form, während nur Zwei von Hundert das Rechteck bevorzugten. Die unbeliebteste Form ist der rechteckige Körper. Die unbeliebteste Farbe ist das klassische Braun. Ist demnach ein brauner, rechteckiger Kubus das denkbar hässlichste Ding unter der Sonne?

Ironischerweise war die braune Box in den letzten hundert Jahren die dominierende Form in der Architektur. Gewiss gibt es praktische Gründe dafür, mit rechteckigen Formen zu entwerfen und zu bauen. Sieht man sich aber historische Architektur an – in fast jeder Kultur –, spielte das Rechteck dort eine weniger bedeutende Rolle, während die beliebten Formen aus unserer Umfrage präsenter waren.

Mein schönes Geld

Unsere Instagram-Follower sind ziemlich gleichmäßig auf die Vereinigten Staaten und Europa verteilt. Unter den vertretenen Nationen gibt es auch eine kleine Anzahl von Followern aus der Schweiz. Vertrautheit mit der Währung und – möglicherweise – Patriotismus könnten die Ergebnisse beeinflusst haben, als wir diese Frage auf Instagram veröffentlichten: »Welche dieser Währungen findest du am schönsten?“

Der Euro war in der Umfrage Sieger. Eine wissenschaftliche Umfrage würde dem Umstand Rechnung tragen, dass die Schweizer in der Minderheit waren, im Vergleich zu den Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus der Eurozone und den USA. Wäre das Verhältnis ausgeglichen, hätte wohl der Schweizer Franken gewonnen. Die Schönheit scheint Patriotismus und Vertrautheit übertroffen zu haben.

Jessica war sich nach ihrem ersten Studienjahr an der Rhode Island School of Design nicht mehr sicher, was sie von Grafikdesign halten sollte. Das meiste, was die Professorinnen und Professoren lehrten, basierte auf dem Internationalen Stil. Studenten verbrachten Monate damit, Raster zu perfektionieren und der modernistischen Typografie nachzueifern, und die Vorzeige-Beispiele der Lehrenden wirkten langweilig und blutleer. Es war Ootje Oxenaars Klasse, die ihr den Glauben an die Gestaltung zurückgab. Oxenaar präsentierte seine eigenen, wunderschönen Arbeiten, und erläuterte, wie es ihm gelingt, Verspieltheit und Persönlichkeit in seine Entwürfe einzubringen. Er entwarf die holländischen Banknoten von den 1960ern bis in die 1980er Jahre, und sie blieben im Umlauf, bis sie durch den Euro ersetzt wurden.

Die Währung ist schön. Wenn man genau hinschaut, versteckt sich in jeder Note ein Detail aus Oxenaars Leben: Der Abdruck seines Mittelfingers, eine Zeichnung, die das Kaninchen seiner Freundin zeigt, oder der Name seiner Enkeltochter. Jessica erinnert sich an sein Schmunzeln über den Umstand, dass er jedem in den Niederlanden seinen Mittelfinger zeigte, eine vielleicht eindrucksvollere Gestaltungsstrategie als perfektes Kerning.

Wir hatten erwartet, dass Vertrautheit und Patriotismus auch die Umfrage zum schönsten Pass beeinflussen würde, was das Endergebnis umso erstaunlicher macht.

Obwohl wir nur wenige Schweizer Follower haben, wählten drei Viertel aller Teilnehmer den Pass der Schweiz zum schönsten Dokument. Wenn es also einen internationalen Konsens gibt, wie kann dann Schönheit im Auge des Betrachters liegen?